“Flesh turns to ash!”

Die Trivialität von Classic


2.189
0

27.06.2020, 01:18 Uhr



WoW Classic ist um ein Vielfaches einfacher als all das, was ich in Retail von WotLK bis Legion erlebt habe. Dennoch fällt mir der um ebenfalls ein Vielfaches gesteigerte Elitarismus auf. Woran liegt das?

In Retail war es jahrelang so, dass sich bei schwierigen Bossen eine sichtbare Lernkurve bildete. Je länger an einem Boss gearbeitet wurde, desto qualitativer wurde die Abstimmung der Nuancen sowohl im Gruppen- als auch im Solospiel eines jeden Raiders. Am Ende sollte jeder Spieler bestenfalls genau wissen, wann welche Cooldowns zu benutzen sind, um 1. dem Raid zu dienen und um 2. den größtmöglichen persönlichen Profit daraus ziehen zu können.

Classic unterscheidet sich signifikant von diesem Vorgehen. Dort fällt, zumindest bis jetzt, jeder Boss am ersten Raidabend nach Release. Ganz gleich, ob mit World Buffs oder ohne. Ganz gleich, ob Spieler sterben oder ihre CDs völlig falsch einplanen. Stand jetzt gehe ich davon aus, dass auch in Zukunft nicht allzu viele Probleme auf uns warten.
Warum herrscht aber gleichzeitig eine so große Erwartungshaltung an den Raid und seine Spieler, obwohl komfortabel jeden Mittwoch BWL, MC, Ony und ZG (!) in ca. vier Stunden erledigt werden?
Das liegt vor allem an den Konsequenzen, die bei Fehlern drohen. Die Raidvorbereitung erfordert einiges an Aufwand. Im besten Falle sind Consumables zu kaufen, die den Goldbeutel deutlich mehr belasten als in Retail, und einige World Buffs zu holen. Das Problem bei den World Buffs ist, dass diese bei Tod verschwinden. Den ganzen nachfolgenden Abend ist es nun unmöglich, auf Warcraftlogs zu ranken. Genau dieses Ranken ist jedoch für viele eine Motivation, jede Woche wiederzukehren - mehr als das Gear, das noch wartet.

Auch wenn Classic um ein Vielfaches einfacher ist als Retail, ist es dennoch um ein Vielfaches einfacher, den gesamten Raid zu töten. »Kleine« Fehler, wie das Aggroziehen beim falschen Boss, töten den gesamten Raid (Schattenflamme) oder bringen das Aggrometer so durcheinander, dass die Tanks nicht mehr hinterherkommen und der Boss Spieler nach Spieler tötet. Ein Wipe bei Vaelastrasz nimmt jedem Spieler für den restlichen Abend den Spaß des Rankens; die Items trudeln ja sowieso nebenbei ein, da kein Boss fordernd ist. Das ist besonders in IDs mit dem Dunkelmondbuff problematisch, da diese nur alle vier Wochen vorkommen.
Streng genommen kann man sich auch nur in diesen IDs »richtig« ranken, da der 10-%-Damage-Buff zu ausschlaggebend ist.

Das führt zum nächsten Problem: Man kann nicht ausgiebig Taktiken testen, denn Testen resultiert oftmals im Tod oder in niedrigem Schaden. Man hat pro Woche nur einen Versuch pro Boss. Dort riskante Taktiken auszuprobieren, die in einem Wipe resultieren können, muss gut kommuniziert werden. Beim Trash einen Zahn zuzulegen erfordert hohe Aufmerksamkeit von jedem Spieler, der im besten Fall automatisch die ihm zugeteilten Gegner kennt. Jeder Spieler, der beim Trash stirbt, verliert seine Buffs und schwächt dadurch auch das Gesamttempo des Raids. Verliert nur der Maintank seine Buffs, kann dieser den restlichen Abend schon nicht mehr weitertanken, da er sonst das Aggrocap des Raids bildet. Das Fläschchen der Titanen wird also auch von ihm mit ins Grab genommen, obwohl es bei Tod nicht schwindet.

(Kleine) Fehler/Unachtsamkeiten haben sofortige Konsequenzen, die den restlichen Abend betreffen. Auf Retail projiziert würde das bedeuten: Ein Wipe (= World Buffs weg) und der Raidabend ist beendet, da ohne World Buffs der Boss niemals läge.

Bei den Rank-IDs habe ich bemerkt, welch großer Druck auf allen Beteiligten lastet. Ein kapitaler Fehler und die nächste Chance ist erst wieder in einem Monat. Wundersamerweise funktionierten diese IDs aber sehr gut, obwohl sich vorher so gut wie keine Übung mit einem vollgebufften Raid einstellen konnte. Dieses Problem ließe sich sicher umgehen, wenn zu jedem Raid jeder Spieler voll gebufft erschiene. Dann wäre es auch nicht so schwerwiegend, wenn es eine Woche mal schief ginge, da die nächste Woche wieder voll gebufft ans Werk gegangen wird.
Im Gegensatz dazu kann man aber auch nicht erwarten, dass jede Dunkelmond-ID fehlerfrei abläuft. Dafür ist zu schnell der Wipe herbeigeführt.

Einige der (Fast-)Wipes unserer Classic-Karriere:

• Bug bei Razorgore, der den Boss resetten lässt und alle Spieler tötet
• In mehreren IDs bei Vaelastrasz Aggro gezogen und nicht schnell genug zur Tankposition gelaufen
• Aggro gezogen beim Broodlord, der daraufhin viele Spieler tötet
• Wegen minimaler Fehlpositionierung ging der Atem bei Flammenmaul ins Camp. Durch den Knockback des Wing Buffets wurde ein Trash Pack gepullt.
• Wegen späten Spotts trifft der Flammenatem eines Drachens den gesamten Raid während der Drehung
• Bei Chromaggus sind nicht beide Tanks in der Aggro ganz oben, obwohl noch nicht geklärt ist, ob Timelapse aktiv ist
• Bei Nefarian stirbt der Tank, der Boss tötet hintereinander zu viele Spieler. Resultat: 15 Minuten auf Respawn warten!

Einige Sachen sind auf die veraltete Classic-Engine zu schieben, die ihre Merkwürdigkeiten hat. Andere auf kleine Fehler, deren Konsequenz sich manche nicht bewusst sind. Manche auf grobe Schnitzer. Wieder andere auf ein Chaos, das nach Tanktoden und beim Versuch der Stabilisierung entsteht. Alles hat aber die »qualitative Entwertung« des Raidabends zur Folge. Der Elitarismus ist also darauf zurückzuführen, dass die Bosse, ganz gleich ob mit oder ohne Buffs, fallen und gleichzeitig ignoriert wird, dass kleine Unstimmigkeiten den Raid wipen können (»Es ist doch alles soo einfach!«). Es sind immerhin auch 40 Spieler im Raid. Dass dort ab und an etwas Ungünstiges passiert, ist vorprogrammiert. Das Paradoxe dabei ist, dass der Elitarismus in Classic weniger notwendig denn je ist. In Retail wurde deutlich weniger gefordert und seltener Unmut bekundet, obwohl es dort sicher mehr gebracht hätte.
Da jeder Boss »sowieso umfällt«, bin ich mir sicher, dass viele Spieler nicht ansatzweise ihre Möglichkeiten durch Addons und Weakauras ausschöpfen, die ihre Performance ohne viel Tun um mehr als 50 % steigern würden. In Retail waren diese Tools überlebenswichtig. Ohne ging gar nichts.

Eine mögliche Lösung wäre, jeden Raid volle World Buffs und Consumables zu verlangen. So unterscheiden den Raid von der Rank-ID nur die fehlenden 10 % Schaden durch den DMF-Buff. Ebenfalls werden durch die deutlich verkürzten Kämpfe wichtige Sekunden genommen, in denen die oben aufgeführten Fehler passieren können. Ebenfalls werden die Spieler, die nun gezwungenermaßen die World Buffs holen mussten, sich hoffentlich mehr konzentrieren. Sonst war für sie der Zusatzaufwand des Buffholens umsonst. Die »buffholenden, gestorbenen Idioten« konnten sie früher mit einem Lächeln abspeisen.
Letztlich sollte über Fehler, die den Raid wipen, auch mal hinweggesehen werden, sofern diese nicht jede Woche auftreten. In Retail wurden weitaus mehr (und auch schwerwiegendere) Fehler begangen. Nur kann dort deutlich mehr vom Raid und vom Einzelnen kompensiert werden.

Kommentar verfassen










Kommentare (0)